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Umsatz- oder persönliches Wachstum, Flurin Poltera?

Umsatz- oder persönliches Wachstum, Flurin Poltera?

Flurin Poltera beantwortet im Rendez-vous unsere – nicht unbedingt fachspezifischen – Fragen.

Erschienen in folgender Publikation:

Umsatz- oder persönliches Wachstum, Flurin Poltera?
Ausgabe
Seite(n)
342–344

Name: Flurin Poltera

Beruf/Position: M & A Tax/ Private Clients, Partner bei Deloitte

Familie: verheiratet, zwei Kinder

Hobbys: Sport (am liebsten auf zwei Rädern; vorwiegend auf dem Velo oder wenn schon mit Motor, dann mit einem, den man gut hören kann), lesen (Sach­bücher – allerdings möglichst ohne steuer­lichen Inhalt, also quasi «steuerfrei») und Musik (ich höre fast alles und spiele selbst Trompete und Flügelhorn)

Warum wurden Sie Steuerberater? Was wären Sie sonst geworden?

Ich hatte lange keinen Plan. Ich fand aber immer, «Rechtsanwalt» töne gut. Also hab’ ich das Patent gemacht. Da ich mir allerdings mein Studium extensiv mit Velofahren und Jassen verschönert hatte, reichten meine Noten nicht für eine Anstellung bei einer renommierten Kanzlei. Ich suchte eine Nische, um mich zu spezialisieren. Nach einer langwierigen Selektion blieb das Steuerrecht. Es war ein Glücksfall. Vor allem, weil ich mit Peter Athanas, Stephan Kuhn, Georg Lutz, Thomas Stenz und Giuseppe Giglio grossartige Mentoren hatte.

Ihr Name deutet auf Wurzeln im Graubünden hin und trotzdem haben Sie eine «Zürischnurre». Wie ist das zu erklären?

Als ich 1999 bei Arthur Andersen anfing, hat sich die bestehende Clique echter Bündner gefreut, dass noch einer von ihresgleichen dazukommt. Sie hätten mir wohl noch verziehen, dass ich kein Rätoromanisch spreche. Aber dass ich trotz meines Namens eine «Zürischnurre» habe, hat mich schon am Tag 1 zu einem normalen Unterländer gemacht. Was ich auch bin: Ich habe mein ganzes Leben im Kanton Zürich gewohnt, mit Ausnahme von drei Monaten in Australien/Neuseeland (privat) und drei Monaten in New York (beruflich). Mein Bürgerrecht hat mir der Kanton Graubünden bisher dennoch nicht entzogen, also: Ich habe dort noch so etwas wie eine Wurzel.

Leben Sie für das Steuerrecht?

Ich würde eher sagen, ich lebe vom Steuerrecht.

Haben Sie auch mal die Nase voll von Ihrer momentanen Tätigkeit?

Von der Tätigkeit als Berater von Kunden eigentlich nicht. Was mich indessen wiederholt frustriert, sind die vielfältigen Diskussionen um all die guten Gründe, warum man weniger arbeiten sollte. Zweifelsfrei haben diese ihre Berechtigung. Allerdings frage ich mich, welches Problem gelöst werden soll. Vordergründige Themen sind mehr Freizeit und mental health. Das sind zentrale Anliegen. Für mich geht es aber um etwas Grundsätzlicheres: Das Arbeitsverhältnis ist ein Geben und Nehmen. Das ist leider etwas kompliziert, es ist ja keine Zwei-Parteien-Beziehung. Neben dem Mitarbeiter als Individuum sind das Team, der «Chef» und die Firma als Arbeitgeberin involviert, irgendwie auch noch die Familie und natürlich die Kunden. Alle geben etwas, und bekommen etwas zurück. Ich versuche meinen Mitarbeitern zu vermitteln, den Fokus bezüglich des «Zurückbekommens» nicht primär auf arbeitsfreie Zeit und monetäre Entschädigung zu richten.

Wie sollte man denn die Angelegenheit Ihrer Ansicht nach betrachten?

Die Diskussion hat eine andere Perspektive verdient. Der wichtigste Teil von dem, was die Kolleginnen und Kollegen in unserem Arbeitsumfeld (mit-)nehmen sollten, ist die fachliche und persönliche Weiterentwicklung. Das sollte strukturiert vor sich gehen, sodass fortlaufend das individuelle «portable self» (vgl. dazu Herminia Ibarra, «Working Identity») jedes Einzelnen wächst und an Wert zunimmt. Das Steuerrecht und seine Interdisziplinarität bieten dafür ideale Voraussetzungen. Man kann sich in so viele Richtungen weiterentwickeln. Das ist eine Chance und ein Privileg. Darauf sollte der Fokus liegen. Das ist nicht nur eine Bringschuld des Arbeitgebers; der Mitarbeiter muss sich auch mit sich selbst auseinandersetzen. Wenn man diesbezüglich keine Vorstellung und kein Ziel hat und dann konsequenterweise auch keine Fortschritte erkennt, helfen auch mehr Freizeit (oder ein höherer Bonus) nicht weiter. So gesehen führt eine Diskussion um «weniger arbeiten» oder «mehr Geld» weder zu gesünderen noch zu zufriedeneren Mitarbeitern.

Was ist Ihr Sehnsuchtsziel?

Serpentinen üben eine magische Anziehung auf mich aus. Wenn sich eine Strasse einen Berg hochschlängelt, spüre ich den unwiderstehlichen Drang, sie auf zwei Rädern zu befahren. Die Frage ist dann immer die gleiche: mit dem Renn- oder dem Motorrad? Ersteres bringt mir (oben angekommen) unglaubliche Genugtuung, Letzteres ist purer Spass. Beides macht mir den Kopf frei.

Gibt es etwas, was Sie extrem nervt im Steuerbereich?

Ja, schon. Einige internationale Entwicklungen finde ich ärgerlich. Insbesondere frage ich mich, ob die Schweiz in diesem Kontext nicht etwas smarter agieren könnte. Auch national habe ich immer wieder Störgefühle. In der Regel kulminieren die, wenn das Kantonale Steueramt jeweils im Januar «Aktuelles aus dem Zürcher Steuerwesen» (Abendveranstaltung der Sektion Zürich von EXPERTsuisse) präsentiert.

Welches Buch lesen Sie gerade?

Ich bin getrieben von Themen, die ich nicht begreife, aber gern besser verstehen möchte. Das sind in der Regel gleichzeitig mehrere, weshalb ich alle paar Tage ein anderes Buch mit mir herumtrage. Meine jüngste Anschaffung ist «Deep Transformations. A Theory of Degrowth». Wie das Konzept des permanenten Wachstums auf Dauer funktionieren soll, ist mir schon lange ein Rätsel. Kürzlich hat mir ernsthaft jemand gesagt, es sei wichtig, dass die Schweiz so bald wie möglich zehn Millionen Einwohner habe. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das mehr Probleme löst, als es schafft oder verschärft. Andererseits braucht es sehr viel Optimismus, um zu glauben, dass sich degrowth wie in dem Buch beschrieben realisieren lässt.

Sie haben an der renommierten INSEAD eine Ausbildung zum Executive Master in Change gemacht. Was war Ihre Motivation?

Auf die Ausbildung aufmerksam gemacht hat mich schon vor vielen Jahren eine Mitarbeiterin aus dem HR (eine Bündnerin!). Sie hat wohl mitbekommen, wie ich mich hintersonnen habe, wenn meine Kommunikation nicht die Reaktionen erzielte, die ich erwartet hatte, und wie ich ungläubig zur Kenntnis nahm, dass selbst bei einstimmigen Entscheiden von Gremien die Umsetzung von Veränderungen hartnäckig keine oder nur kleine Fortschritte machte. Die Ausbildung an der INSEAD ist unglaublich vielfältig und spannend. Nicht zuletzt deshalb, weil man sich im ersten Jahr mit sich selbst beschäftigen muss – nach dem Motto: Wie will man bei Andern etwas bewirken, wenn man sich selbst nicht kennt und selbst nicht zu Veränderungen bereit ist?

Was haben Sie von dieser Ausbildung mitgenommen?

Die grosse Erkenntnis war, ich meinte, wir seien mit dem rationalen Denken Herr über uns selbst. Das eigentliche Machtzentrum ist aber das Unterbewusstsein: das individuelle Unterbewusstsein des Einzelnen und – noch komplexer – das kollektive von Gruppen, Unternehmen und Gemeinschaften. Seine Abwehrmechanismen schützen uns, stehen uns aber häufig auch schlicht im Weg.

Können Sie ein Beispiel machen?

Die vorhin erwähnten Work-Life-Balance-Bemühungen der Arbeitgeber können ein kollektiver Abwehrmechanismus sein. Sie ermöglichen dem Mitarbeiter einen Ausgleich zum beruflichen Stress. Das läuft aber ins Leere, wenn das Problem nicht die Komplexität der Aufgaben resp. der Arbeitsumfang ist, sondern ein tiefer liegendes Problem besteht, z. B. ein toxisches Umfeld, mangelnde Betreuung und Unterstützung, das Gefühl, ausgenutzt zu werden, oder schlicht als sinnlos wahrgenommene Aufgaben. Von Arbeitgebern initiierte Massnahmen sind leider häufig symptombekämpfend, eine Umgehung der Herausforderung, sich mit den wirklichen Gründen auseinanderzusetzen, die dem Mitarbeiter den Spass am Arbeiten verderben. Wie man solche Themen identifiziert und mit ihnen umgeht, ist ein Ziel der Ausbildung. Die ist allerdings mit der Masterarbeit nicht zu Ende. Es arbeitet in einem weiter und lässt einen nicht mehr los.