Olivier Margraf
Interkantonales Verfahrensrecht der direkten Steuern (Diss.)
2023, 370 Seiten, CHF 99.–
Schulthess Verlag, Zürich
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Dissertationen, welche sich dem Steuerverfahrensrecht widmen, sind selten. Geradezu einzigartig ist die vorliegende Dissertation, welche sich mit dem Verfahrensrecht im interkantonalen Steuerrecht befasst, einer Materie, die man als «schwierig», wenn nicht sogar als «sehr schwierig» bezeichnen kann. Die Gründe dafür sind vielfältig bzw. vielschichtig. Sie werden hiernach kurz aufgeführt.
Im Bereich des interkantonalen Steuerrechts ist die steuerpflichtige Person mit mehreren kantonalen Steuerbehörden konfrontiert. Das Recht verschiedener Kantone ist deshalb auf dieselbe Person anwendbar. Olivier Margraf zeigt dies gleich zu Beginn seines Werkes auf: «Das Zusammenspiel verschiedener kantonaler Steuerhoheiten und kantonaler Verfahrensordnungen stellt (…) eine grosse Herausforderung dar» (S.3).
Des Weiteren ist diese Materie nur sehr schlecht normiert, d.h., ein kohärentes Regelwerk gibt es nicht, wie es auch Olivier Margraf beklagt (S.3).
Angesichts dieser Schwierigkeiten gebührt dem Autor ein ausserordentlicher Dank, denn es ist das erste Mal, dass diese Materie umfassend behandelt und die verschiedenen Problemfelder detailliert ausgeleuchtet und praktische Lösungsvorschläge vorgelegt werden. Dem Autor gebührt der Dank der Akademiker wie auch der Praktiker, denn Letztere sind konkret mit den Problemen konfrontiert, deren Lösungen nun von Margraf aufgezeigt werden.
Das Werk gliedert sich strukturell in vier Teile. Nach einer Einleitung erfolgt eine Bestandesaufnahme der Verfahrensregeln bei Steuerpflicht in mehreren Kantonen. Der Hauptteil der Dissertation ist im dritten Teil verschiedenen Praxiskonstellationen bei interkantonalen Sachverhalten (§6) und Optimierungsvorschlägen und deren Bewertung und Realisierbarkeit (§7) gewidmet. Im kurzen vierten Teil folgen eine Zusammenfassung sowie Schlussbetrachtungen.
Im Hauptteil seiner Dissertation untersucht der Autor verschiedene interkantonale Konstellationen sehr detailliert, zeigt die Problemfelder auf und unterbreitet praktische Lösungsvorschläge.
Olivier Margraf untersucht an verschiedenen Stellen (S.92f. undS.216ff.) die einzig im interkantonalen Verfahrensrecht bestehende Figur der Verwirkung des Beschwerderechts. Er geht auf die Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen dem allgemeinen Rechtsmissbrauchsverbot und der Verwirkung des Beschwerderechts ein, ohne aber diesbezüglich klar Stellung zu nehmen. U.E. wäre es angemessen gewesen, darauf hinzuweisen, dass das Rechtsmissbrauchsverbot materieller Prägung ist und nicht (mehr) dem Schutz des jeweils betroffenen Kantons dient. Es ist in diesem Zusammenhang auf die weiteren sich daraus ergebenden Fragen zu verweisen, die eine vertiefte Behandlung verdient hätten (ausdrückliche Geltendmachung oder Berücksichtigung ex officio, usw.; siehe dazu Daniel de Vries Reilingh, Vom Hauptsteuerdomizil juristischer Personen und vom «Wandel» der Verwirkungseinrede zum Missbrauchsverbot im interkantonalen Steuerrecht – Bemerkungen zuBGer20.8.2020, 2C_522/2019, FStR2021/4, S.358, S.362).
In Sachen Primär-und Gegenberichtigungen im interkantonalen Verhältnis macht OlivierMargraf interessante Vorschläge. Er ist der Ansicht, eine schlanke und zielführende Lösung könne mit dem Revisionsverfahren erreicht werden, wobei aber offen sei, ob das Bundesgericht einer solchen Lösung zustimme. Dem Autor ist hierin recht zu geben; seine diesbezügliche Analyse und seine Lösungen sind u.E. grundsätzlich richtig und begrüssenswert. In der Praxis werden (solche) Korrekturverfahren oft auch durchgeführt, selbst wenn die gesetzliche Grundlage diesbezüglich nicht ohne Weiteres ersichtlich ist (so auch Margraf, S.251).
Interessanterweise befasst sich der Autor mit der Frage der Präjudizwirkung von Handlungen des Hauptsteuerdomizilkantons u.a. im Zusammenhang mit der Genehmigung von Spesenreglementen. Der Autor schlägt verschiedene Lösungen (S.257ff.) vor und ist anschliessend der Ansicht, dass Gegenrechtsvereinbarungen zwischen den Kantonen realistischer seien (S.260). Nun hat aber das Bundesgericht in seinem Grundsatzurteil vom 14.Oktober2022 (2C_804/2021) entschieden, dass vom Sitzkanton des Arbeitgebers genehmigte Spesenreglemente auch für die Steuerbehörden von anderen Kantonen verbindlich sind. Im Veranlagungsverfahren der Einkommenssteuern des Arbeitnehmers darf die Steuerbehörde die Angemessenheit nicht mehr prüfen. Sie kann einzig noch feststellen, ob der Betrag der ausbezahlten Spesen dem Betrag der Pauschalspesen entspricht, der im Spesenreglement vorgesehen und als solcher im Lohnausweis des Betroffenen angegeben ist. Dieser Entscheid zeigt, wie aktuell die vorliegende Arbeit von OlivierMargraf ist.
In seinen Schlussbetrachtungen macht der Autor interessante Vorschläge (S.312), welche– so wäre zu hoffen– in die Praxis umgesetzt werden.
Die vorliegende Dissertation, welche sich mit einer nicht leicht zugänglichen Materie befasst, kann allen daran interessierten Praktikern wärmstens empfohlen werden. Es bleibt zu hoffen, dass der eine oder andere Vorschlag aufgegriffen und umgesetzt wird, sodass sich gewisse Hürden und Schwierigkeiten in interkantonalen Steuerverfahren in Zukunft nicht mehr stellen.
Daniel de Vries Reilingh, Prof. Dr. iur., Rechtsanwalt, Ordinarius an der Universität Freiburg